Christian MenathAnalyse
Ressortleiter Formel 1
Schnüffelt gerne am Print-Magazin, gibt mit seiner bestandenen Steward-Prüfung an, hält lange Monologe, war einst gut im Mario Kart – und liebt die F1 bedingungslos.MEHR
Der Aserbaidschan-GP 2024 war ein moderner Formel-1-Klassiker. Der Zweikampf um den Sieg zwischen Charles Leclerc und Oscar Piastri geht in die Geschichtsbücher ein. Am Ende entschied der McLaren-Pilot das Duell in Baku für sich – und das, obwohl er und sein McLaren an diesem Wochenende nicht das schnellste Paket waren. Leclerc und Ferrari machten aber zwei entscheidende Fehler.
Fehler 1: Ferrari unterschätzt den Undercut
Am Ende des ersten Stints sah es schon so aus, als wäre der Leclerc der Sieg nicht mehr zu nehmen. Nachdem Piastri zu Beginn des Rennens noch an Leclerc dranbleiben konnte, musste er ab Runde 6 abreißen lassen und fiel aus dem DRS-Fenster. In der Dirty Air hatten die Reifen des McLaren-Piloten gelitten, er fiel sukzessive zurück. Zwischen Runde 5 und 14 wuchs Leclerc Vorsprung von 0,6 auf 5,9 Sekunden an
McLaren holte Piastri in Runde 15 zum Reifenwechsel, Ferrari zog mit Leclerc eine Runde später nach. Eine Runde nach den beiden Stopps lag Piastri nur noch 1,3 Sekunden hinter Leclerc. Der Zeitverlust von 4,5 Sekunden in zwei Runden hatte zwei Gründe.
Einerseits hatte Ferrari schlicht den Undercut unterschätzt. “Wir dachten, es würde dauern, bis die harten Reifen auf Temperatur kommen”, gestand Leclerc. Piastri aber nahm seine Pneus sofort ran, weil er direkt vor Sergio Perez auf die Strecke kam und seine Position verteidigen musste. Piastri fuhr sofort absolute Bestzeit im Mittelsektor. Allein dort nahm er Leclerc schon 1,3 Sekunden ab.
Dabei war Leclercs Inlap nicht besonders langsam. Im Vergleich zu Piastris Inlap, eine Runde zuvor, verlor er nur 0,3 Sekunden. Das Problem war, dass die frischen Hards sofort deutlich schneller waren. Als Leclerc aus der Box kam, war Piastri aber noch nicht direkt dran. Ferrari hielt Leclerc dazu an, die Reifen langsam anzufahren – das war möglicherweise der Schlüssel zum Sieg in Monza.
Leclercs Outlap war tatsächlich 2,8 Sekunden langsamer als jene von Piastri eine Runde zuvor. Der Preis für das langsame Anfahren der Reifen war hoch: Am Ende der Runde lag der McLaren nur noch 1,3 Sekunden hinter dem Ferrari, eine Runde später war er sogar schon im DRS-Fenster.
Fehler 2: Charles Leclerc verteidigt sich nicht
Ohne die strategische Fehleinschätzung wäre es wohl nie so weit gekommen, doch Leclerc hatte den Sieg noch in der eigenen Hand. In Runde 20 machte er aber den entscheidenden Fehler: Als Piastri zum ersten Mal einen Überholversuch wagte, verteidigte der Ferrari-Pilot nicht. “Als Oscar mich überholt hat, dachte ich, dass ich einfach nur ruhig bleiben und die Reifen am Leben halten muss und ich ihn dann später wieder überholen kann”, erklärte Leclerc selbst.
Doch der Moment kam bekanntlich nicht. Leclerc hatte dafür zwei Erklärungen: Einerseits glaubte er, dass der Ferrari auf dem harten Reifen nicht mehr so funktionierte. Teamchef Fred Vasseur glaubte nicht so recht daran: “Das lag wohl eher daran, dass Charles keine freie Fahrt mehr hatte sondern in verwirbelter Luft fuhr.”
Die zweite Erklärung des Ferrari-Piloten war, dass McLaren den besseren Topspeed hatte. In den Kurven, so Leclerc, hatte Ferrari den Vorteil, auf den Geraden McLaren. Im Netz kursierten umgehend Verschwörungstheorien, McLaren hätte sich den Topspeed-Vorteil mit einem biegsamen Heckflügel erschlichen.
Tatsächlich aber hatte Ferrari gar keinen Topspeed-Nachteil. Schon im Qualifying konnte man erkennen, dass McLaren und Ferrari sehr ähnlich unterwegs waren. Auf Start und Ziel wurde Piastri mit 342,8 km/h gemessen, Leclerc mit 342,3 km/h. Ohne DRS waren es an der Geschwindigkeitsmessung 319,8 km/h bei Piastri und 319,5 km/h bei Leclerc. Auch die Windschatten-bereinigte Auswertung zeigt keine großen Unterschiede zwischen McLaren und Ferrari.
Aber wie sah es im Rennen aus? Am besten eignet sich hier die Geschwindigkeitsmessung auf Start und Ziel. Die Linie befindet sich am Ende der langen Geraden. Der Vordermann hat den Heckflügel geschlossen, der Hintermann profitiert von Windschatten und aktiviertem DRS.
Bei seinem Überholmanöver wurde Piastri mit 341 Stundenkilometer geblitzt. Dabei fuhr er 0,347 Sekunden hinter Leclerc in dessen Windschatten. Der Monegasse hatte in diesem Moment 320 Stundenkilometer auf dem Tacho.
In den nächsten 26 Runden drehte sich der Spieß um: Pastri vorne, Leclerc dahinter mit Windschatten und DRS. Tatsächlich aber war der Geschwindigkeitsüberschuss des Ferrari-Piloten in Runden, in denen er ähnlich nah dran war, fast eins zu eins identisch mit jenem, den Piastri hatte.
Formel 1, Baku: Geschwindigkeitswerte und Abstände
Runde | Speed Leclerc | Speed Piastri | Abstand |
---|---|---|---|
19 | 320 | 341 | -0,347 |
20 | 335 | 315 | 0,43 |
21 | 331 | 321 | 0,516 |
22 | 334 | 311 | 0,502 |
23 | 333 | 321 | 0,54 |
24 | 334 | 315 | 0,66 |
25 | 336 | 319 | 0,613 |
26 | 338 | 323 | 0,399 |
27 | 334 | 323 | 0,428 |
28 | 343 | 321 | 0,152 |
29 | 330 | 321 | 0,409 |
30 | 345 | 323 | 0,276 |
31 | 331 | 313 | 0,466 |
32 | 346 | 323 | 0,165 |
33 | 332 | 313 | 0,665 |
34 | 333 | 321 | 0,572 |
35 | 336 | 322 | 0,394 |
36 | 341 | 323 | 0,568 |
37 | 338 | 323 | 0,542 |
38 | 338 | 322 | 0,376 |
39 | 338 | 322 | 0,477 |
Gemessen wurde jeweils auf der Start und Ziellinie. Geschwindigkeitsangaben in km/h, Abstände in Sekunden.
Piastri kam ohne DRS auf einen durchschnittlichen Topspeed von 320 km/h – genau mit dieser Geschwindigkeit wurde Leclerc gemessen, als er überholt wurde. Natürlich variiert der Topspeed von Leclerc im Windschatten von Runde zu Runde, hauptsächlich hängt das aber davon ab, wie nah er an Piastris Heck war. In Runde 32 wurde der Monegasse sogar mit 346 km/h geblitzt, weil er nur 0,165 Sekunden hinter dem Australier fuhr.
Und trotzdem klappte es mit dem Überholmanöver nicht. Aus einem einfachen Grund: Piastri verteidigte sich und deckte jedes Mal die Innenbahn ab. Genau das hatte Leclerc versäumt, als Piastri an ihm vorbeigegangen war.
Sicherlich war Piastris Manöver außergewöhnlich, er ging extrem spät auf die Bremse und bekam die Kurve noch irgendwie. “Ich dachte selbst, dass es eine 50/50-Sache war, ob ich die Kurve noch bekommen würde”, gestand Piastri. “Ich dachte, er fährt geradeaus”, gab Teamchef Andrea Stella zu. Trotz fast identischer Ausgangslagen beim Geschwindigkeitsüberschuss konnte es Leclerc gar nicht erst versuchen, weil die Innenbahn dicht war.
Ausschlaggebend war aber auch, dass der McLaren eine starke Traktion hatte. So kam Piastri jedes Mal ohne Probleme aus Kurve 1 heraus, obwohl er nicht auf der Außenbahn anbremste. Leclerc konnte den Schwung der Außenbahn nie in einen wirklichen Vorteil verwandeln.
Für alle Feinschmecker des gepflegten Rennfahrens zum Abschluss noch eine herzerwärmende Statistik: 26 Runden am Stück fuhr Leclerc im DRS-Fenster von Piastri. Weil DRS bei den Renn-Feinschmeckern negativ konnotiert ist: Er fuhr 26 Runden lang im Abstand von maximal einer Sekunde hinterher. Durchschnittlich waren es auf der Ziellinie sogar nur 0,46 Sekunden.
Nimmt man noch die Runden dazu, die Piastri hinter Leclerc fuhr, verbrachten die beiden insgesamt 33 der 51 Rennrunden im Abstand von weniger als einer Sekunde. Mangels Bildrechten dürfen wir den sensationellen Doppel-Drift von Piastri und Leclerc in Kurve 16 nicht zeigen. Diese Statistik ist ein Versuch, die Faszination dieses Duells in Zahlen und Worte zu gießen.
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