Markus SteinrisserAnalyse
Formel 1 Ressort
Seit 2018 im F1-Team. Der Mann fürs Textliche. Nichts ist schöner als Action auf- und abseits der Strecke, fusioniert zum großen Feature.MEHR
Es ist ein deutliches Trainings-Ergebnis. Nach dem 2. Freien Training von Singapur haben Lando Norris und Charles Leclerc auf den ersten beiden Plätzen über eine halbe Sekunde Vorsprung auf den Rest der Formel 1. Daran ändert auch die eingehende Trainings-Analyse nichts. Norris und Leclerc fahren bisher in einer eigenen Welt. Red Bull und Mercedes hingegen überhaupt nur mehr im F1-Mittelfeld.
Ein klarer Favorit lässt sich nach dem Freitag zwischen Norris und Leclerc nicht ausmachen. Beide holten je eine Bestzeit. Im repräsentativen Nachttraining war Norris 0,058 Sekunden schneller als Leclerc. Den Puffer holte er sich ab Kurve 8 durch den schnelleren Teil des Mittelsektors bis zur Brücke. Da lag der McLaren gut, Leclerc verlor fast eineinhalb Zehntel auf Norris.
Norris & Leclerc in ihrer eigenen Singapur-Liga bisher ebenbürtig
Einen großen Teil davon holte sich Leclerc mit einer perfekten letzten Kurve zurück. Dafür brauchte er zwei Anläufe. Seine Rundenzeit stammt also von Soft-Reifen, die bereits eine schnelle Runde hinter sich hatten. Auf diesem zweiten Versuch ging ihm beim Einlenken in Kurve 13 der Grip aus, ein kleiner Quersteher und nicht maximiertes Potenzial im Mittelsektor war die Folge.
Nimmt man den besseren letzten Sektor dieses zweiten Versuchs und die ersten beiden seines ersten, so kommt eine theoretische Trainings-Bestzeit heraus. Um 0,033 Sekunden. Es wirkt, als hätte Leclerc etwas mehr Luft nach oben: “Das Auto fühlte sich nicht ganz so an wie ich wollte.”
Etwas, das Norris Sorgen machen dürfte, denn er meint nach FP2 im Gegenzug: “[Leclerc] ist sicher happy mit seiner Runde. Wenn nicht, dann macht mir das Sorgen! Bei mir war es eine nette Runde, für einen Freitag geht da nicht mehr viel.” So oder so waren beide auch im Longrun in einer anderen Klasse, eine halbe Sekunde schneller als der Rest der F1. Wo ist also dieser Rest?
Ein kurzer Blick zuerst auf die Teamkollegen. Carlos Sainz war immerhin Dritter, aber 0,629 Sekunden weg. Ferraris Freitage zeigen inzwischen ein nerviges Muster. Immer wieder taucht ein nicht näher definiertes Bremsproblem auf. In Baku und in Singapur erwischte es Sainz: “Besonders auf Cooldown-Runden, Outlaps, da gab es viele Probleme. Das hilft mit Vorbereitung und Vertrauen nicht.”
Ohne die Probleme rechnet Sainz am Samstag mit mehr. Größer sind die Sorgen bei Oscar Piastri, dem auf P5 0,741 Sekunden fehlten: “Ich fand einfach keinen Rhythmus. Die Pace im Auto ist stark, aber ich kriege sie nicht raus.” So schob sich sogar Yuki Tsunoda vor ihn. Gleich zwei Mittelfeld-Teams pfuschten gar am Freitag der Spitze ins Handwerk.
Racing Bulls & Williams schocken Red Bull & Mercedes
Tsunoda auf Platz vier ist das größte Ausrufezeichen, aber Daniel Ricciardo liegt auf P6, Alex Albon auf P9 schlug auch einen Mercedes und einen Red Bull. Franco Colapinto war fast gleich schnell wie Max Verstappen. Für Williams erst recht eine Überraschung, nachdem Albon – der immerhin mit einer neuen Vorderrad-Aufhängung ausgerüstet wurde – keine großen Erwartungen hatte.
Durch die schnelleren Kombinationen im Mittelsektor, und generell in den Kurven, gaben die Mittelfeldler den Top-Teams Hausaufgaben mit. Das ist besorgniserregender als sonst, wenn solche Ergebnisse auftauchen. Williams und die Racing Bulls sind nämlich eigentlich dafür bekannt, gerne in manchen Trainings die Motorleistung etwas stärker aufzudrehen.
So ganz traut man dem Braten dort noch nicht. “Viele Gegner werden morgen nachlegen”, prognostiziert Tsunoda. Er hat aber auch Williams im Verdacht. Dort klingt tatsächlich leiser Optimismus durch. “Es fühlt sich noch nicht herausragend an, was gut ist, dann steckt da mehr Zeit drin”, meint Albon. Er bleibt aber bei Platz neun als Zielvorgabe, will keine Angriffe auf die Top-Teams vorhersagen.
Red Bull & Mercedes starten Singapur mit Pleiten-Vorstellung
Doch die sind in ernster Schieflage. Gut, Max Verstappens 15. Platz ist überdramatisch, er lief im letzten Sektor auf Verkehr auf. Davor war er im Bereich von Sergio Perez unterwegs. Das sind aber neun Zehntel Rückstand. Bei ihm staute sich Frust an, nachdem er Stunden zuvor auch schon Strafarbeit für Fluchen in der Pressekonferenz kassiert hatte. Die Probleme auf der Strecke sind nicht die erwarteten. Man hatte Angst vor den Bodenwellen in langsamen Ecken gehabt. Die waren im Vorjahr der Untergang gewesen.
Aber 2024? “Weniger ein Problem, ehrlich gesagt”, so Verstappen. “Generell der Grip.” Hat man vielleicht überkorrigiert, um die Bodenwellen-Probleme zu lösen? “Wir müssen uns die Kompromisse zwischen den beiden anschauen.” So ist klar, warum Verstappen in fast jeder Kurve Zeit auf Tsunoda verliert. Der Balance-Sturz erwischte das Team kalt. Immerhin – Red Bull bekommt in der Balance-Frust-Ecke Gesellschaft von Mercedes.
Auch dort verlor man in Kurven auf das Mittelfeld. George Russells siebter Platz mit sieben Zehnteln Rückstand ist wohl kaum die Erfüllung. In FP1 hatte man erst Setup-Experimente versucht, um die Reifen besser zu verstehen. Je länger der Tag dauerte, desto weiter geriet man ins Hintertreffen. Große Umbauten halfen nichts, so ein frustrierter Lewis Hamilton: “Wir haben viel getan, und genau das Gleiche erreicht.”
“Momentan werden wir nicht in Q3 landen”, ist Hamiltons Prognose düster. Russell ergänzte die Misere, indem er am Ende seines Longruns seinen Frontflügel per Kontakt unter eine Betonwand stopfte. Er meldete wenigstens Fortschritte in FP2: “Aber das Auto fühlt sich nicht wirklich so verbunden an, wie es vor zwölf Monaten war, oder in den letzten Rennen.”
Red Bull & Mercedes glänzen auch im Renn-Trimm in Singapur nicht
Mit eine Rolle spielen könnte ein sich veränderndes Grip-Niveau. Zum einen wurden Teile der Strecke neu asphaltiert. Zum anderen wurde die Ideallinie nachbehandelt und gereinigt. In FP2 war man 2024 daher schon zwei Zehntel schneller als die Pole-Zeit des Vorjahres. Auf den Reifenverschleiß hat das aber kaum Auswirkungen. Selbst auf dem weichsten Reifen beobachtete Pirelli keine Probleme. Selbst bei Soft-Start könnte die angepeilte Einstopp-Strategie möglich sein.
Sowieso sind die Longruns von nachrangiger Bedeutung. Auch bei der neu eingeführten vierten DRS-Zone herrschen Zweifel, ob das etwas erreicht. Ein Bummelzug wird erwartet. Norris und Leclerc enteilten dem Feld wie angesprochen auch hier. Bedingt vergleichbar, weil Norris Soft fuhr, Leclerc Medium. Beide waren im Mittel ungefähr gleich schnell. Und liefen zufälligerweise beide zu gleichen Zeiten auf Sauber-Fahrer auf.
Ohne die Sauber hätte es noch besser ausgesehen. Mercedes und Verstappen reißen eine halbe Sekunde auf, Perez noch mehr. Beachtlich schlägt sich Albon. Doch für diese Partie wird so oder so Qualifying und potenzielles Chaos das Rennen entscheiden. Auch plötzlicher Platzregen ist in Singapur immer möglich. Freitagnacht kam der etwa zwei Stunden nach dem Training. Und nicht vergessen: Dieses Rennen kommt mit Safety-Car-Garantie. Während die vierte DRS-Zone übrigens nicht ohne Kontroverse ist. Nico Hülkenberg hat Sicherheitsbedenken:
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