“Das ist sehr weit hergeholt”, meint Doktor Helmut Marko beim Vergleich des Zerfalls des Römischen Reichs mit der Situation bei Red Bull Racing. Das Römische Reich erlebte 117 nach Christus unter Kaiser Trajan seine größte Ausdehnung. Innere Unruhen und Bürgerkriege waren für das Römische Reich der Anfang vom Ende. Red Bull erlebte 2023 nicht nur die erfolgreichste Saison der Teamgeschichte, sondern das erfolgreichste Jahr der Formel-1-Geschichte. Nie in der 75-jährigen Geschichte hat ein Team dermaßen dominiert wie Red Bull. 21 der 22 Grands Prix konnte das Team gewinnen, 19 davon gingen allein auf das Konto von Max Verstappen. 17 der letzten 18 Saisonrennen gewann der Niederländer. Und obwohl die Verantwortlichen immer wieder betonten, dass sie um die Tatsache wüssten, dass 2023 eine Ausnahme-Saison gewesen sei und niemand mit einer Fortführung jener Dominanz rechnen dürfe: Mit einer solch harten Landung hatte bei den Bullen niemand gerechnet.

Es ist der 23. Oktober 2022. Bevor der US Grand Prix in Austin gestartet wird, schallen die Rolling Stones aus den Lautsprechern. Ihr Hit ‘Start me up’ wird gespielt, alle Piloten hören andächtig zu. Auch Dr. Helmut Marko lauscht den Klängen. Er trägt an diesem Tag eine große, dunkle Sonnenbrille. Der Österreicher ist sichtlich ergriffen. Einen Tag zuvor war Dietrich Mateschitz verstorben. Mateschitz gründete Red Bull 1987 und wurde mit dem Energy Drink zum Milliardär. Von Mateschitz selbst bekam die Außenwelt nur wenig mit, obwohl er Red Bull vor allem zu einem Marketing-Giganten aufbaute. Und dazu gehört auch oder vor allem der Motorsport.

Dietrich Mateschitz und Dr. Helmut Marko beim Frankreich-GP 2008, Foto: Sutton
Dietrich Mateschitz und Dr. Helmut Marko beim Frankreich-GP 2008, Foto: Sutton

So war es eigentlich nur logisch, dass er früher oder später auf Helmut Marko treffen musste. Beide waren fast gleich alt, Mateschitz stammte aus dem Mürztal, nur eine knappe Autostunde von Graz entfernt, wo Marko geboren wurde und sich nach seiner aktiven Formel-1-Karriere als Hotelier einen Namen machte. Bei einem Graz-Besuch nächtigte Mateschitz in einem Hotel von Marko, die Geschichte nahm ihren Lauf. Zunächst unterstützte Mateschitz Markos Rennteam als Sponsor, daraus entstand schließlich das Red Bull Junior Team. Marko wurde zum Red Bull Motorsportchef und übersieht seither die Aktivitäten des Brausekonzerns im Benzin-Business. Anfangs lag Mateschitz vor allem der heimische Motorsport am Herzen. Spätestens 2005 entwuchsen die Projekte dem Mäzenatentum: Red Bull kaufte das Jaguar-Team und war mit einem eigenen Rennstall in der Königsklasse vertreten. 2006 kam mit der Scuderia Toro Rosso, die aus Minardi hervorgegangen war, noch ein zweiter Rennstall hinzu. Plötzlich war Red Bull der größte Spieler der Formel 1.

Von Anfang an mit dabei: Christian Horner. Marko holte den ehemaligen Rennfahrer, der inzwischen einen Nachwuchsrennstall leitete, als jüngsten Teamchef in die Formel 1. Mit zarten 31 Jahren leitete Horner 2005 die Geschicke von Red Bull Racing. Horner machte aus einem Team, das im Fahrerlager zunächst niemand ernst nahm, ein Top-Team. Währenddessen zog aber immer Marko im Hintergrund die Strippen und sorgte vor allem für Fahrer-Nachwuchs. Mit Sebastian Vettel gelang ihm ein Sport-Märchen: Der eigene Junior wurde mit Red Bull viermal Weltmeister. Nach einer Motoren-Durststrecke wiederholte sich das Märchen mit Max Verstappen. Seit 2005 holte kein anderes Team in der Formel 1 so viele Siege wie Red Bull Racing. 2023 war die Krönung, die Mateschitz nicht mehr erleben durfte.

Die Erbfolgekriege bei Red Bull nach dem Tod von Mateschitz

Es war aber wohl nicht nur Krönung, sondern auch der Zenit. Im Oktober 2023, fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Tod von Mateschitz, könnte bei Red Bull eigentlich alles bestens sein – ist es aber nicht. Die letzten fünf Rennen fährt Red Bull nur noch für die Geschichtsbücher, beide Titel sind bereits im Sack. Und trotzdem herrscht dicke Luft. 2022 trauerte man in Austin, 2023 streitet man sich. Horner versuchte im Hintergrund, Marko loszuwerden. “Dietrich Mateschitz hat de facto in Alleinregie dieses Erfolgsunternehmen geführt, hat sehr schnell und sehr autoritär entschieden”, erklärt Marko heute rückblickend die Hintergründe. “Das war natürlich für die Firma als Gesamtheit irrsinnig schwer, so jemand zu ersetzen. Er wurde durch drei Geschäftsführer ersetzt. Und es hat in der gesamten Struktur Veränderungen gegeben. Horner hat mehr Agenden übernommen. Das Ganze hat sich geändert – aber das ist, wenn so eine Ausnahmepersönlichkeit wegfällt, nicht gerade etwas Außergewöhnliches.”

Trotzdem gibt es ein Jahr nach dem Tod des Firmengründers ernsthafte Kompetenzgerangel. Horner will das Vakuum ausnutzen. Obwohl er seit 2005 Teamchef ist, so war es immer Marko, der an den obersten Chef berichtete. Früher sah man Marko nach den Sessions stets mit Handy am Ohr bedächtigen Schrittes aus der Garage gehen. Zunächst mit einem alten Nokia, bei dem der Gesprächspartner gerne Mühe hatte, die Worte des Doktors zu verstehen. “Seit er sein iPhone hat, ist die Qualität ein bisschen besser”, weiß Max Verstappen. Aber Markos Gesprächspartner nach den Sessions hatte es einfacher, ihn zu verstehen, er sprach die gleiche Sprache, den gleichen Dialekt: Es war Dietrich Mateschitz höchstpersönlich, an den Marko stets nach den Sessions berichtete.

Mit dem Tod Mateschitz’ änderten sich die Machtverhältnisse im Konzern. Dem Österreicher gehörten 49 Prozent am Brausehersteller, der thailändischen Seite 51 Prozent. Die thailändische Seite, das ist die Yoovidhya-Familie. Mit Chaleo Yoovidhya hatte Mateschitz das Unternehmen einst gegründet. Vom Thailänder kam die Rezeptur des ursprünglich Krating Daeng genannten Drinks, vom Österreicher kam der Geschäftssinn. Zu Lebzeiten Mateschitz’, so war es im Gesellschaftervertrag geregelt, sollte er die Geschicke des Konzerns lenken. Der Österreicher rüstete den Getränkekonzern auch für die Zeit danach, installierte mit Finanzchef Alexander Kirchmayr, dem Chef der Getränkesparte Franz Watzlawick und CEO Oliver Mintzlaff ein Triumvirat. Mintzlaff ist zudem für alle Sportaktivitäten von Red Bull zuständig, ist also nun der neue Chef von Marko und Horner. Aber mit dem Tod Mateschitz’ ging die ultimative Entscheidungsgewalt im Konzern an Chalerm Yoovidhya, den Sohn des 2012 verstorbenen Chaleo Yoovidhya. Und damit witterte Christian Horner die große Chance, seine eigene Macht auszubauen.

Motorsportchef Dr. Helmut Marko, Max Verstappen und Teamchef Christian Horner in der Red Bull-Box
Zwischen Christian Horner und Dr. Helmut Marko brodelte es 2023 gewaltig: Max Verstappen schlug sich als Königsfigur auf die Seite des Österreichers, Foto: Getty Images / Red Bull Content Pool

In Austin brodelte es 2023 bereits gewaltig – nicht nur im Hintergrund. Erste Geschichten der Unruhen machten die Runde. Max Verstappen positionierte sich schon damals eindeutig: “Jeder kennt seine Rolle im Team genau. Wir versuchen, das Vermächtnis von Dietrich zu wahren. Jeder im Team ist sehr wichtig für den Erfolg, den wir gerade haben. Darum gibt es für die Zukunft keine Änderungen.” Dem frischgebackenen Dreifach-Weltmeister gefielen die Ambitionen seines Teamchefs gar nicht. Er wollte, dass das Dreamteam genau so zusammenbleibt: Horner sollte weiterhin das Tagesgeschäft des Rennstalls führen, Marko im Hintergrund die Strippen ziehen. Horner macht, Marko denkt, Verstappen lenkt – so hatte sich der Niederländer das vorgestellt. Tatsächlich kehrte mit der Zeit wieder etwas Ruhe ein.

Doch ein Schwelbrand hatte sich bereits ausgebreitet. Franz Tost, seit 2006 Teamchef des kleinen Bullen-Rennstalls, wurde am Ende der Saison 2023 verabschiedet, mit Peter Bayer und Laurent Mekies ein Führungsduo installiert. Noch während der Saison feierte Daniel Ricciardo sein Bullen-Comeback. Auch die Vorgänge bei AlphaTauri ließen bereits einen Wandel erkennen. “Christian Horner leitet jetzt zwei Teams”, sagte ein Insider damals. In der Netflix-Serie Drive to Survive konnte später jedermann sehen, wie Horner auch über Red Bulls Schwesterteam regierte. Horner hatte zuvor im Stile eines Politikers Lobbyismus in Thailand betrieben.

An der Oberfläche war der Brand zwischen Horner und Marko nicht mehr ersichtlich, im Hintergrund blieb es aber kompliziert. Marko reiste vom Saisonfinale in Abu Dhabi ab, ohne genau zu wissen, wie es weitergehen würde. Unter Mintzlaff hatte er erstmals in seiner Tätigkeit auch einen Vertrag unterschrieben. Zwischen Marko und Mateschitz war das nicht nötig. Der Vertrag ging zwar bis Ende 2024, aber der Doktor wollte sich nicht an einem Stück Papier festklammern. Dass sich Marko mit dem neuen Sportchef Mintzlaff noch nicht so recht anfreunden konnte, half Horner bei seinem Machtausbau. “Wenn ein neuer Manager kommt, dann ist es klar, dass der seine eigenen Ideen hat und seine eigenen Wege geht”, gestand Marko damals. Doch die Beziehung zu Mintzlaff sollte sich bald ändern.

Red Bull-Doppelführung durch Max Verstappen vor Sergio Perez
Die Siege von Max Verstappen gerieten 2024 bei Red Bull in den Hintergrund, Foto: Getty Images / Red Bull Content Pool

Die Horner-Affäre erschüttert die Formel 1

Wenige Tage vor der Präsentation des RB20 für die Saison 2024 begannen die Handys einiger Journalisten besonders häufig zu klingeln. Die ersten Gerüchte über eine Affäre rund um Christian Horner machten die Runde. Lange Zeit blieben die Gerüchte nur Gerüchte. Bis die Verstappen-nahe niederländische Tageszeitung ‘De Telegraaf’ am 5. Februar 2024 erstmals darüber berichtete. An diesem Tag traf sich zufällig die Formel-1-Kommission in London. Viele Teamchefs wussten schon zuvor von den Gerüchten, doch die Stimmung in der Sitzung soll sich nach Veröffentlichung des Artikels erheblich verbessert haben – Horner zählt nicht zu den beliebtesten Kollegen im Gremium. Auch vom Konzern gab es nun ein erstes Statement: “Hinsichtlich der jüngsten Anschuldigungen wurde eine unabhängige Untersuchung eingeleitet. Sie wird von einem externen unabhängigen Ermittlungsanwalt durchgeführt und wird so schnell wie möglich abgeschlossen.” Horners persönliche Assistentin hatte ihrem Chef unangemessenes Verhalten vorgeworfen. Während es weder Details noch Belege gab, forderten einige schon den Rücktritt des dienstältesten Formel-1-Teamchefs. Selbst potenzielle Nachfolger standen bereits in den Startlöchern. Ein Name, der immer wieder fiel: Jonathan Wheatley. Der Teammanager soll sich in Stellung gebracht haben.

Die folgenden Wochen und Monate wurden für Horner zum Spießrutenlauf. Wenige Tage nach Bekanntwerden musste der Brite für eine anwaltliche Anhörung nach London. Wiederum einige Tage später stellte Red Bull als letztes Team das neue Auto vor. An diesem 15. Februar trat Horner erstmals seit Bekanntwerden der Vorwürfe öffentlich auf. “Es gab ein paar Anschuldigungen, welche ich absolut zurückweise. Ich folge den Vorgaben des Verfahrens, und das hat seinen Ablauf. Darüber hinaus kann ich nichts sagen, es ist ein privater Prozess des Unternehmens”, stellte Horner damals klar. Es war wohl kein Zufall, dass kurz darauf erneut ein Bericht des Telegraaf Horner in Bedrängnis brachte. Dem Teamchef wurde vorgeworfen, die Angelegenheit mit seiner Assistentin mit Schweigegeld regeln zu wollen.

Es ging turbulent weiter, beim Testbeginn in Bahrain wurden die unangenehmen Fragen nicht weniger. Die Konkurrenz nutzte die Gelegenheit, um Druck auf das Team und Horner auszuüben, auch FIA und Formel 1 sahen sich gezwungen, Stellung zu nehmen. Am Abend vor dem 1. Training zum Saisonstart in Bahrain meldete sich dann der Mutterkonzern erneut zu Wort – und entlastete Horner. “Die unabhängige Untersuchung der gegen Christian Horner erhobenen Vorwürfe ist abgeschlossen. Red Bull kann bestätigen, dass die Beschwerde abgewiesen wurde. Die beschwerende Partei hat das Recht, Berufung einzulegen. Red Bull ist überzeugt, dass die Untersuchung fair, gründlich und unbefangen war. Der Untersuchungsbericht ist vertraulich und enthält private Informationen der Parteien und Dritter, die an der Untersuchung mitgewirkt haben. Aus Respekt für alle Beteiligten wird Red Bull sich daher nicht weiter dazu äußern. Red Bull wird weiterhin die höchsten Arbeitgeber-Standards erfüllen.”

Beendet war die Affäre damit noch längst nicht. Knapp 24 Stunden nach dem Red-Bull-Freispruch herrschte große Aufregung im Medienzentrum von Bahrain. Das 2. Freie Training, das zu dieser Zeit stattfand, wurde zur Nebensache. Von einer anonymen Adresse wurden angebliche Chatverläufe von Horner und seiner Assistentin an den FIA-Präsidenten Mohammed Ben Sulayem, Formel-1-Boss Stefano Domenicali, die Teamchefs und alle permanent akkreditierten Journalisten geschickt. Red Bulls Doppelsieg am Samstagabend ging komplett unter. Stattdessen drehte sich alles um Horner und seinen Auftritt. Der Teamchef wurde an diesem Tag demonstrativ von Ehefrau und Ex-Spicegirl Geri Horner unterstützt. Am Parc ferme posierte das Paar zusammen mit Chalerm Yoovidhya und dessen Frau. “Das war schon eine skurrile Show, die Christian Horner und seine Frau dort mit dem Mehrheitseigentümer von Red Bull abgezogen haben”, beschrieb Formel-1-Experte Christian Danner die Szenen vom Renntag. “Wirklich skurril. Das war inszeniert. Das war schon komisch mit anzuschauen in der wirklichen, harten Welt der Formel 1.” Es dauerte nicht lange, da goss Jos Verstappen Öl ins Feuer. “Solange er [Christian Horner, d. Red.] in dieser Position bleibt, wird es hier Spannungen geben. Das Team läuft Gefahr, zerrissen zu werden. So kann es nicht weitergehen, die Situation wird explodieren”, prognostizierte er in der Daily Mail.

Red Bull-Teamchef Christian Horner mit Jos Verstappen
Jos Verstappen schoss nach Beginn der F1-Saison 2024 unermüdlich gegen Horner, Foto: LAT Images

Tatsächlich sollte die erste Explosion nicht lange auf sich warten lassen. Nur eine Woche später eskalierte die Situation vollends, als plötzlich die Suspendierung von Helmut Marko im Raum stand. Horner war sich nicht sicher, aus welcher Richtung immer wieder auf ihn geschossen wurde – aber Marko hatte schließlich nach der Vorgeschichte der beiden die geringsten Probleme mit dem angezählten Red-Bull-Teamchef. Wieder einmal wurde am Freitagabend der Sport zur Nebensache, als sich Verstappen nach seiner Pole Position in der Pressekonferenz klar hinter Marko stellte: “Ich habe großen Respekt vor Helmut, und was wir gemeinsam erreicht haben, geht sehr weit. Und natürlich ist auch meine Loyalität ihm gegenüber sehr groß. Ich habe das auch immer gegenüber allen im Team zum Ausdruck gebracht, auch gegenüber allen, die weit oben stehen, dass er ein wichtiger Teil meiner Entscheidungsfindung ist. Es ist also sehr wichtig, dass er im Team bleibt, und das gilt natürlich auch für alle anderen, denn es ist ja eine Teamleistung. Und es ist sehr wichtig, dass wir die Schlüsselfiguren zusammenhalten, denn ich habe das Gefühl, dass es auch für meine Situation nicht gut ist, wenn eine so wichtige Säule wegfällt – das habe ich auch dem Team gesagt. Für mich ist klar, dass Helmut bleiben muss, ganz sicher. Er hat dieses Team zusammen mit Dietrich vom ersten Tag an aufgebaut, er war immer sehr loyal gegenüber dem Team, gegenüber jedem innerhalb des Teams, um sicherzustellen, dass jeder seine Position von damals behalten würde. Es ist natürlich auch sehr wichtig, dass man dem Mann eine Menge Respekt für das zollt, was er getan hat. Und das hat auch mit Loyalität und Integrität zu tun.”

Was Verstappen da vor der Weltöffentlichkeit sagte, war mehr als ein Plädoyer für Marko. Es war eine Bedingung. Wenn Marko geht, geht auch er. Möglich wäre das trotz Vertrags bis 2028 durch eine Ausstiegsklausel. Geht Marko, kann auch Verstappen gehen. Von nun an gab es in den Gazetten ein ganz anderes Thema: Wechselt Verstappen 2025 zu Mercedes? Horner hatte größte Schwierigkeiten, die Situation zu beruhigen. “Das war sicher keine lustige Zeit”, erinnert sich Marko an Saudi-Arabien zurück. “Mintzlaff kam nach Saudi-Arabien und wir hatten dort ein sehr langes und gutes Gespräch. Die Suspendierung war eine dieser Aktionen, die im Laufe des Übergangs von Mateschitz’ Tod zur neuen Geschäftsführung und deutlich mehr Einflussnahme der thailändischen Gesellschafter passiert ist.” Marko kam am Rennsamstag in Saudi-Arabien nach der Aussprache zusammen mit Mintzlaff ins Fahrerlager. Die Bilder gingen um die Welt. Die Suspendierung war vom Tisch. Denn Mintzlaff und Marko spielten inzwischen im gleichen Lager: Beide wollten verhindern, dass Horner alles übernimmt.

Burgfriede bei Red Bull: Plötzlich war die WM in Gefahr

Die wiederkehrenden Gerüchte über einen möglichen Verstappen-Wechsel stärkten Markos Position. Wenn er und Verstappen wollten, konnten sie Red Bull bloßstellen. Horner machte bei seinen öffentlichen Beschwichtigungsversuchen eine unglückliche Figur. “Kein Individuum ist größer als das Team. Wie überall im Leben kannst du niemandem mit einem Blatt Papier zu etwas zwingen. Wenn ein Fahrer irgendwo nicht sein will, dann kann er woanders hin”, sagte er nicht nur einmal. Das galt nicht nur für Verstappen. Am 1. Mai 2024 gab Red Bull bekannt, dass Designgenie Adrian Newey den Rennstall nach 19 Jahren verlassen wird. Mangelnde Wertschätzung – selbst nach der dominantesten Saison der Formel-1-Geschichte – soll ein wesentliches Element für seine Entscheidung gewesen sein. Dabei hatte Newey seinen Vertrag erst exakt ein Jahr zuvor um mehrere Jahre verlängert. Newey war nicht der Einzige, der Red Bull den Rücken kehrte. Mit Jonathan Wheatley und Chef-Stratege Will Courtenay gingen noch zwei weitere Hochkaräter. Bei Red Bull versuchte man, die Abgänge kleinzureden und die Gründe dafür im Erfolg und in der Budgetobergrenze zu suchen. Marko gibt aber auch zu: “Mit Mateschitz war eine charismatische Führung da. Wenn er wo reingekommen ist, dann wurde alles ruhig, da hat man ehrfürchtig aufgeschaut. All diese Umstrukturierungen haben sicher dazu beigetragen.”

Doch zumindest zwischen Horner und Marko herrscht inzwischen ‘Burgfriede’, wie es der Österreicher einst selbst nannte. Die Machtverhältnisse wurden in der Zwischenzeit klargestellt. “Ich bin unabhängig, ich bin auf den Job nicht angewiesen. Wenn ich bleibe, dann muss das in einem Rahmen sein, der mich in meinen Rechten und Möglichkeiten nicht komplett einschränkt und dass ich das Beste für Max erzielen kann”, macht Marko klar. Sein Vertrag wurde schon zu Beginn des Jahres bis Ende 2026 verlängert, inzwischen wurden ihm entsprechende Kompetenzen zugesichert. Dadurch hat der Doktor wieder Spaß am Ordinieren und Verstappens Zukunft ist gesichert. Aber die Unruhen haben Spuren im Team hinterlassen. Durch die zahlreichen Abgänge ist Red Bull Racing geschwächt. “Wir sind breit aufgestellt, aber jetzt braucht man schon eine gewisse Zeit, um diese Abgänge wieder entsprechend nachzubesetzen und die Leute brauchen ja eine gewisse Zeit zum Einarbeiten”, gesteht Marko. Inwiefern die Abgänge einen Einfluss auf die Performance-Flaute hatten, darüber streitet sich die Fachwelt. Vier Monate lang konnte Verstappen zwischenzeitlich kein Rennen gewinnen und fand sich im WM-Kampf gegen McLaren wieder, ehe er im November wieder auf die Siegerstraße zurückkehrte. Der Ernst der Lage ist durch diese Schwächeperiode bei allen Beteiligten angekommen: “Wir sind uns jetzt einig. Wir müssen kooperativ zusammenarbeiten, um diese WM noch zu gewinnen”, forderte Marko.

Sympathy for the Devil, würde Mateschitz’ Lieblingsband dazu singen. “Und es ist auch ganz wichtig, um in Zukunft wieder ein Siegerauto zu haben. Nur so können wir Max Verstappen halten”, so Marko. Obwohl die Gefahr des Marko-Abschieds und des Verstappen-Nachzugs gebannt ist, eine Performance-Klausel gibt es noch immer im Vertrag des Weltmeisters. Spätestens 2026 wird es da spannend, wenn Red Bull erstmals einen eigenen Motor baut. Bis dahin herrscht jedenfalls besagter Burgfriede. Ein Burgfriede herrscht per Definition aber auf Zeit. Die Zeit wird zeigen, ob 2023 für Red Bull das Jahr 117 in der römischen Zeitrechnung war.

Dieser Artikel stammt aus unserem Print-Magazin Nummer 99 vom Oktober und wurde nur etwas aktualisiert. Wenn er euch gefallen hat, dann ist unser gedrucktes Magazin genau das richtige für euch. Es erscheint im 2-Monats-Rhythmus und ist bei uns exklusiv im Abo erhältlich. Alle Informationen findet ihr hier: