1. Warum fuhr Verstappen beim Restart auf Hard?

Als Max Verstappen in Runde 13 zum ersten Mal an die Box kam, war klar, dass er auf einer 3-Stopp-Strategie unterwegs war. Als in Runde 55 das Safety Car kam, hatte er seine drei Stopps schon absolviert. Bei drei der vier Stints hatte er die weichen Reifen aufgezogen. Für den Schlussspurt nach dem Saftey Car war nicht mehr viel im Regal: Ein gebrauchter Satz Soft und ein frischer Satz Hard. Das Problem mit den gebrauchten Softs war, dass Verstappen darauf nicht nur Qualifying-Runden gefahren war, sondern auch die Sichtungsrunden vor dem Rennen.

Deshalb entschied sich Red Bull für Hard. Im Nachhinein hätte man anders entschieden. Man hätte aber nicht die gebrauchten Softs aufgezogen, sondern wäre gar nicht mehr zum Stopp gekommen. Denn Verstappen hatte sich erst in Runde 47 gebrauchte Softs abgeholt. Durch die Stopps der Konkurrenz wäre er beim Restart auf Platz eins gelegen.

Verstappen rammt Russell: War es Absicht? F1-Rennsperre droht! (10:00 Min.)

2. Was passierte beim Restart?

Verstappen reagierte gut, als Oscar Piastri vorne das Tempo anzog. Schon in der Zielkurve war aber klar, dass der harte Reifen die falsche Entscheidung war. Verstappen bekam Übersteuern und konnte einen heftigen Abflug gerade noch so vermeiden. Dadurch verlor er Schwung und Charles Leclerc konnte noch auf der Geraden vorbeigehen. Auch George Russell versuchte in Kurve 1 rein sein Glück. Es kam zur leichten Berührung zwischen Russell und Verstappen. Der Niederländer machte die Lenkung auf, fuhr durch die Auslaufzone und sortierte sich anschließend wieder vor Russell ein.

3. Warum war Verstappen erst sauer auf Leclerc?

Beim Duell auf der Start- und Zielgerade nach dem Restart berührten sich Leclerc und Verstappen leicht. Eigentlich hätte Leclerc einfach vorbeifahren können, doch er versuchte die Tür gleich wieder zuzumachen. Weil Verstappen zuvor versuchte, die Tür zuzuwerfen, kamen sich die beiden nicht nur gefährlich nahe, sondern berührten sich auch leicht. Beide mussten nach dem Rennen bei den Stewards vorsprechen. Die Formel-1-Schiedsrichter entschieden auf Rennunfall und ließen beide davonkommen.

4. Musste Verstappen Russell die Position zurückgeben?

Der Unfall in Runde 64 zwischen Verstappen und Russell kam nur zustande, weil Red Bull Verstappen angewiesen hatte, Russell vorbeizulassen. Bei Red Bull ging man davon aus, dass sich Verstappen in Kurve 1 beim Restart einen Vorteil verschafft hatte, indem er die Strecke verlassen hatte und so vor Russell geblieben war. Verstappen war aus dem Cockpit gänzlich anderer Meinung, doch bei Red Bull hatte man Angst vor einer Zeitstrafe im nach der Saftey-Car-Phase engen Feld.

Die Stewards stellten später klar, dass Verstappen die Position gar nicht zurückgeben hätte müssen. Zwar lag Russell am Scheitelpunkt leicht vorne, aber Verstappen hatte die Strecke nicht absichtlich verlassen. Stattdessen war ein Kontrollverlust bei Russell der ausschlaggebende Grund. Dadurch wurde Verstappen abgedrängt. Das ist für Red Bull doppelt bitter: Einerseits entstand so erst die ganze Situation, andererseits gab Verstappen den Platz kurz darauf noch einmal ohne Unfall her.

5. Warum beschwerte sich Red Bull über die Rennleitung?

Red Bull sah den Zwischenfall 50:50. Im Zweifel wollte man lieber auf Nummer Sicher gehen. Das Problem: Bei der Rennleitung hat man zwar angefragt, erhielt aber keine Antwort. Das ist aber die normale Vorgehensweise: Ex-Rennleiter Niels Wittich revolutionierte das System, um Situationen wie Abu Dhabi oder Saudi-Arabien 2021 zu vermeiden. Damals diskutierten die Teams live mit dem Rennleiter. Der Rennleiter konnte früher einen Platztausch anordnen. Erst wenn Fahrer dem nicht nachkamen, wurden Ermittlungen eingeleitet. Inzwischen müssen die Teams eigenverantwortlich entscheiden. Wenn die Position nicht aufgegeben wird, wandert der Fall vor die Stewards, die dann als Richter ein Urteil fällen. Diese Aufgabe obliegt dem Reglement nach auch nicht dem Rennleiter.

6. Fuhr Verstappen Russell absichtlich ins Auto?

In Runde 64 sollte es zum Platztausch zwischen Verstappen und Russell kommen. Auf der kurzen Geraden zwischen den Kurven 4 und 5 fuhr der Weltmeister von der Ideallinie und verlangsamte. Russell ging vorbei, lenkte für die enge Kurve 5 ein und wurde von Verstappen getroffen. Daran, dass der Red-Bull-Fahrer für die Kollision verantwortlich war, gab es überhaupt keine Zweifel. Die Frage bleibt, ob es Absicht war.

Diese Frage kann nur eine Person beantworten: Max Verstappen. Am Funk sagte er dazu gar nichts. Das ist auffällig, weil der 27-Jährige sonst durchaus mitteilungsbedürftig in strittigen Situationen ist. Nach dem Rennen gab er sich zum Zwischenfall ebenfalls überraschend wortkarg. Erst nach mehrfachen Nachfragen sagte er halbherzig auf die Frage nach der Absicht: “Nein, ich glaube es war eine Fehleinschätzung.”

Damit sich jeder selbst ein etwas besseres Bild machen kann, haben wir Telemetriedaten dargestellt. Hier sind Gaspedalstellung, Bremsvorgänge und Geschwindigkeiten von Verstappen und Russell in der strittigen Situation:

7. Was sagt Red Bull?

Red-Bull-Teamchef Christian Horner verteidigte seinen Schützling auffallend zurückhaltend. “Ich habe mit ihm noch nicht gesprochen”, betonte er mehrfach, warb aber dann fast schon im Verständnis für die Aktion: “Es ist klar, dass er frustriert war.” Zumal die beiden nicht als beste Freunde gelten: Angeblich hätte Verstappen Russell schon in der vergangenen Saison einen Crash angedroht, Verstappen bestritt das aber. Red Bulls Motorsportberater Dr. Helmut Marko versuchte Verstappen zu schützen, sprach von einem ‘Missverständnis’ beim Platztausch. “Wir müssen das den Stewards und den Beteiligten überlassen, aber ich hätte das eher als Rennunfall gesehen”, meint Marko.

8. Was sagt die Konkurrenz?

Tatsächlich hielt sich Mercedes noch etwas zurück, wollte nicht endgültig Absicht unterstellen, schloss es aber auch nicht aus. “Es war für euch alle wohl so überraschend wie für mich. Ich habe keine Ahnung, was er sich dabei gedacht hat”, so George Russell. “Es fühlte sich ehrlich gesagt ziemlich absichtlich an. Das habe ich schon so oft in Simracing und in iRacing [ein Simulations-Videospiel] gesehen. Noch nie in einem Formel-1-Rennen.”

Mercedes Motorsportchef Toto Wolff wollte sich ebenfalls kein abschließendes Urteil erlauben: “Wenn es sich um einen Fall von Road Rage handelte -was ich mir nicht vorstellen kann, weil es zu offensichtlich war -, dann ist das nicht gut. Aber die Sache ist die: Ich weiß nicht, was er damit bezwecken wollte.”

9. Welche Strafe bekam Verstappen?

Verstappen bekam mit dem Fallen der Zielflagge eine 10-Sekunden-Strafe, die ihn von Platz 5 auf Platz 10 zurückwarf. “Zweifellos” wurde die Kollision von Verstappen verursacht, heißt es im Urteil der Stewards. Schuld und Absicht sind aber zwei unterschiedliche Dinge. Das Strafmaß der Renn-Richter lässt auf einen Unfall, nicht auf eine vorsätzliche Kollision schließen. Im Falle von Vorsatz wären deutlich härtere Strafen, bis hin zu Disqualifikation und Rennsperren denkbar.

10. Warum droht Verstappen trotzdem eine Rennsperre?

Obwohl der amtierende Weltmeister der Formel 1 mit einer 10-Sekunden-Strafe glimpflich davonkam, droht ihm noch Ungemach. Denn obendrauf gab es noch 3 Strafpunkte. Dadurch steht der Niederländer bei nun 11 Strafpunkten – bei 12 gibt es eine Rennsperre. Erst nach dem Österreich-GP verfallen die nächsten Strafpunkte. Verstappen muss Kanada und Österreich ohne Strafpunkt auskommen.

Strafpunkte Datum Wofür?
2 30.06.2024 Kollision mit Norris in Österreich
2 27.10.2024 Norris in Mexiko abgedrängt
1 02.11.2024 zu schnell unter VSC im Brasilien-Sprint
1 30.11.2024 langsames Fahren vor Russell im Katar-Qualifying
2 08.12.2024 Kollision mit Piastri in Abu Dhabi
3 01.06.2025 Kollision mit Russell in Spanien