Kleine Schritte. In Monza rettete Lando Norris im siebten Versuch erstmals einen ersten Startplatz durch die erste Kurve. Nicht aber durch die erste Runde. Heute in Singapur geht ihm und McLaren aber die Zeit für kleine Schritte aus. Dieses Formel-1-Rennen muss für Norris sitzen. Er ist haushoher Favorit, und die WM-Hoffnungen hängen immer noch am seidenen Faden. Doch das Gefahrenpotenzial mit Max Verstappen und Lewis Hamilton im Nacken ist enorm.

Nehmen wir für diesen Favoritencheck aber erst einmal einen normalen Rennverlauf an. Tritt der ein, so scheint Norris unschlagbar. Auch auf Soft-Reifen enteilte er der Formel 1 im Longrun am Freitag um mehrere Zehntel. Im Qualifying stellte er den McLaren mit zwei Zehnteln Vorsprung auf Pole, obwohl er ob der schwierigen Q3-Bedingungen nach einer roten Flagge eine Sicherheitsmarge einstreute. Nicht überraschend, wenn die Konkurrenz grundsätzlich von einem deutlichen Sieg ausgeht.

Lando Norris vs. Singapur-Start: Die Wege sind zu kurz

Die größte Gefahr für Norris ist und bleibt natürlich der Start. Denn in Singapur kann man in der Formel 1 nicht überholen. Auch wenn es 2024 eine vierte DRS-Zone gibt. Die ist an den gleichen Messpunkt wie die dritte Zone gekoppelt, vor der Haarnadel Kurve 13. In der Theorie kann man sich also bis Kurve 14 ansaugen, und dann hin zu Kurve 16 auf der seit dem Vorjahr vorhandenen Vollgas-Passage attackieren. Dort hatte es im Vorjahr noch kein DRS gegeben.

Das ist die Überhol-Theorie. In der Praxis sind die Zweifel groß, ob das möglich ist. Zentral für die Frage werden auch die Reifen sein. Man muss sicherstellen, dass die Hinterreifen nicht überhitzen. Niemand will aufgrund des hohen Stopp-Zeitverlustes von 28 oder mehr Sekunden mehr als einmal wechseln. Wer einmal in Reifen-Schieflage gerät, der kann tatsächlich Opfer werden, denn vor beiden DRS-Zonen liegen Traktionsbereiche.

McLaren-Fahrer Oscar Piastri
Singapur ist bekannt überholfeindlich, Foto: LAT Images

Wie schon in Monaco bleibt das Problem aber: Der Asphalt ist glatt, die Belastung niedrig. Weil Überholen so schwer ist, kann man zu Stintbeginn auch stets recht komfortabel Reifen schonen. Wer führt, kann auch die Pace diktieren. Und Führen ist hier wirklich nicht schwer. Norris steht 177 Meter vom ersten Bremspunkt entfernt. Da muss eigentlich ein Katastrophen-Start her. Nur: In Zandvoort war der Weg 164 Meter weit. Wer führte nach der ersten Kurve? Richtig, Max Verstappen.

Max Verstappen & Lewis Hamilton: Weltmeisterlicher Druck in Singapur

Egal, ob Norris heute nach der ersten Kurve führt oder nicht, danach ist die Konkurrenz eine harte. Angeführt vom wieder erstarkten Max Verstappen. Nun heißt es: Sorgfältig die Renn-Strategie zurechtlegen. Im Vorjahr fuhr Carlos Sainz mit der Bummelzug-Taktik zum Sieg: Das Tempo so niedrig halten, dass keine Lücken für Undercuts aufgehen und man gleichzeitig seine eigenen Reifen in freier Luft schont.

Sainz hier im Vorjahr, Charles Leclerc 2024 in Monaco sind die jüngsten Erfolgsbeispiele. Es ist eine Taktik, die keine Fehler erlaubt. Fehler sind in Singapur jedoch nie weit weg. Man frage nur George Russell, der vor einem Jahr auf der letzten Runde in die Wand fuhr. Norris hat heute zwei Weltmeister im Nacken. Das ist das Risiko der Bummelzug-Taktik: Sie bedeutet automatisch, dass Max Verstappen und Lewis Hamilton bis ins Ziel in Schlagdistanz bleiben können.

Was sind Norris’ Alternativen? Kann er wie in Zandvoort wegfahren? Seine Verfolger scheinen das (anhand der Longruns) nicht auszuschließen. Bei McLaren zweifelt man währenddessen an den dramatischen Red-Bull-Darstellungen. “Wenn wir über Red Bull sprechen, dann sage ich immer, dass ich Red Bull von einem Performance-Standpunkt aus nicht traue”, so Teamchef Andrea Stella.

In Baku war Sergio Perez ohne Probleme um den Sieg mitgefahren, in Singapur Verstappen nach großem Setup-Umbau in die erste Startreihe gekommen. Da ist es überhaupt keine absurde Vorstellung, dass Verstappen heute im Rennen mit Norris mithalten könnte. Größer sind die Zweifel bei Hamilton. Der baute das Auto zweimal komplett um. In seiner aktuellen Konfiguration fuhr er mit dem W15 keine Runde mit vollen Tanks im Renn-Trimm.

Safety Car steht vor der Tür: Welche F1-Serie endet heute in Singapur?

Die Strategie hat in Singapur jedoch einen viel wichtigeren Schlüssel als die Reifen. Acht Rennen ist es her, dass die Formel 1 zuletzt ein Safety Car an der Spitze des Feldes sah. Heute geht eigentlich jeder vom Ende dieser Serie aus. Singapur hat seit dem F1-Debüt eine 100-prozentige Safety-Car-Quote. Wer vor diesem erwarteten Safety Car stoppt, der steht dumm da, wenn die Konkurrenz die Unterbrechung nutzen kann.

Aston Martin Safety Car mit Bernd Mayländer führt den Singapur GP vor Carlos Sainz und Max Verstappen an.
Der 2023er-Einsatz von Bernd Mayländer in Singapur, Foto: LAT Images

Was sagt die Statistik? Von Runde 31 bis 36 dauert die Gefahrenzone mit einer 46-prozentigen Einsatzwahrscheinlichkeit. Das ist direkt hinter dem von Pirelli ausgegebenem Boxenstopp-Fenster. Der Reifenhersteller empfiehlt für die Einstopp-Strategie, ab Runde 20 den Medium gegen Hard einzutauschen. So ist die Crash-Gefahr danach eben hoch, weil da das Mittelfeld nach den Stopps in Bewegung gerät.

Wer Hard-Start riskiert, kann sich bis in die 40er durchboxen und lange ausharren, ob nicht vielleicht doch eine Unterbrechung kommt. Randnotiz: Jeder Top-Fahrer hat nur je einen Satz Hard und Medium zur Verfügung. Will man ein zweites Mal stoppen, bleibt nur Soft. Der ist nicht völlig nutzlos, und wie Mercedes im Vorjahr zeigte: Man kann damit zumindest bei einem späten Safety Car riskieren und darauf hoffen, mit Traktionsvorteil noch einmal anzugreifen. Dazu muss man aber die Lücke zufahren und viel schon vor einer potenziellen Attacke aus dem Reifen ziehen.

Letzter verbleibender Unsicherheitsfaktor ist das Wetter. Plötzliche starke Regenschauer sind hier nie auszuschließen. Stand Samstagnacht ist jedoch die Regenwahrscheinlichkeit für den ganzen Tag im einstelligen Bereich angesiedelt.