Bevor es zur Kollision zwischen Max Verstappen und Lando Norris kam, beschwerten sich beide Fahrer über die Fahrweise des anderen. Wie hast du die ‘Dive-Bombs’ gesehen, über die sich Verstappen beschwert hat?
Alexander Wurz: Eine ‘Dive-Bomb’ an sich ist nicht verboten. Sie ist auf jeden Fall spektakulär und auch sehr mutig. Du musst mit den Konsequenzen rechnen, wenn du sie so ansetzt. Aber ich bin eine Person, die es gern sieht, wenn die Fahrer hart racen. Ich tendiere immer ein bisschen mehr in diese Richtung ‘Let them race’.

Insofern – da komme ich wahrscheinlich schon zu deiner nächsten Frage, finde ich die Strafe gegen Verstappen zu hart. Ich hätte hier einen klassischen Racing Incident gesehen. Beide haben sich selbst bestraft. Es geht aber auch nicht um die Bestrafung, sondern dieses ganz leichte nach links ziehen: Da war noch gut Platz. Lando hätte den Unfall verhindern können. Es war eigentlich von beiden unnötig und überhitzt. Ich hätte mich mehr gefreut, wenn sie in den nächsten paar Runden noch stark gekämpft hätten. Aber jetzt sind sie kollidiert, da können wir jetzt viel darüber sprechen. Für mich war es keine Strafe.

Nochmal zu den ‘Dive-Bombs’: Wenn du derjenige auf der Außenseite bist und du kannst einfach nicht einlenken, weil der andere auf der Innenseite so weit geht – ist das dann noch fair, wenn du den Fahrer auf der Außenseite so verhungern lässt?
Alexander Wurz: Wenn der Innere einfach drüber rutscht, du aber außen unter Kontrolle bist, dann kannst du den Undercut gegen den, der mit der ‘Dive-bomb’ ankommt machen und fährst nachher hinten wieder raus. Wenn der so reinbremst, dass du den Undercut nicht mehr schaffst, dann hat er das sensationell getimt und hat einfach sein Grip-Vorteil ausgenützt. Kamui Kobayashi war auch ein Master der ‘Dive-bombs’: Er hat sich so reinstellt, dass der Äußere schon nicht mehr gewusst hat, was mit ihm passiert. Aber er wusste, er kann nicht einlenken. Aber Kamui hat immer die Kurven bekommen. Und das finde ich eigentlich absolut okay. Hart, aber okay. Das sollte man nicht bestrafen oder verbieten.

Crash zwischen Lando Norris (McLaren) und Max Verstappen (Red Bull)
Alexander Wurz hält Dive-Bombs für legitime Manöver in der Formel 1, Foto: LAT Images

Wie war die Aktion von Norris zu bewerten, der nach der ersten Kollision einlenkt und Verstappen noch einmal trifft?
Alexander Wurz: Ich glaube, er wollte da noch irgendwie die Kurve bekommen. Beide sind schon Richtung Weiß gerutscht und das war dann nur noch ein ‘ich will irgendwie um die Kurven kommen’. Ich glaube nicht, dass er ihm absichtlich hineinfahren wollte. Dazu hat die Reaktionszeit glaube ich auch nicht gereicht.

Die Kollision hatte durchaus eine Vorgeschichte, die über das Rennen hinausgeht. Wollte Norris nach den letzten Niederlagen hier Stärke zeigen?
Alexander Wurz: Beide hatten in dieser Situation nicht das Rennende, nicht den WM-Stand, nicht die Punkte, nicht den Sieg vordergründig im Gedanken. Sie dachten sich: Ich will den anderen unter allen Umständen in dieser Kurve hier und jetzt besiegen und zeigen, wer der Platzhirsch ist. Das muss manchmal sein. Das kann manchmal sein. Wenn du vernünftig bist, sollte es nicht sein. Aber in dieser Sekunde Vernunft zu zeigen, das hat dann keiner gemacht und es ist schön, dass sie Menschen sind und dass wir das jetzt auch erleben können. Denn sie sind die Hauptprotagonisten, sie schreiben diese Geschichte dieses Formel-1-Jahres und das war für mich in erster Linie ein gegenseitiges Abstecken.

Glaubst du, dass sich dadurch etwas ändern wird? Bislang war immer Lando derjenige, der den Kürzeren gezogen hat…
Alexander Wurz: Das kommt dann auf die Rennsituation an. Wenn du in der WM nichts richtig dramatisch zu verliehen hast, im Rennen nichts dramatisch zu verliehen hast, wirst du wieder in diesen persönlichen Zweikampf gehen. Sie werden aber natürlich beim nächsten Mal mehr an die Zielankunft denken. Aber da lässt sich im Interview einfach darüber reden, das muss man immer in der Hitze des Gefechtes sehen. Aber das Ganze hat eine lange Vorgeschichte und wird auch noch nicht vorbei sein.

Nicht nur Verstappen wurde bestraft, auch Norris. Er bekam Fünf Sekunden, weil er viermal ohne vertretbaren Grund die Strecke verlassen hat. Der letzte Verstoß kam zustande, weil er sich beim Überholmanöver verschätzt hat. Muss man solche Aktionen wirklich als Track-Limit-Verstöße sehen?
Alexander Wurz: Nein, finde ich nicht. Man sollte Track Limit für ‘Gaining a Lasting Advantage’ nicht verwechseln mit hart fighten und dann etwas rausrutschen. Das sollte nicht einmal angemeldet sein als Track Limit. Wenn du Zeit verlierst, dann brauche ich nicht mehr darüber nachzudenken, ob es ein Lasting Advantage war.

Alexander Wurz (Vorsitzender der GPDA)
Ex-Formel-1-Pilot und GPDA-Präsident Alex Wurz ist als ORF-Experte regelmäßig Gast im Fahrerlager, Foto: LAT Images

Man muss dann aber schon aufpassen, denn es gibt auch versteckte Vorteile. Es kann schon sein, dass du beim Kämpfen absichtlich so tust, als würdest du einen Unfall verhindern und fährst raus und hast somit eigentlich einen Vorteil – obwohl du dich zunächst verschätzt hast, mit welcher Positionierung du in die Kurve gehen sollst. Man muss das schon durchschauen. Aber in dem Fall mit Lando Norris habe ich das nicht so gesehen und hätte das nicht als Track Limit an sich gewertet.

McLaren-Teamchef Andrea Stella meint, dass diese Szenen viel Anlass dazu geben, Dinge klarzustellen. Er fürchtet eine Eskalation der Situation und warnt vor einem zweiten 2021. Siehst du ähnlich viel Klärungsbedarf oder übertreibt er da?
Alexander Wurz: Ich verstehe seine Denkweise und möchte gleich anfügen, dass man natürlich darüber sprechen muss. Die Key-Stakeholder müssen sich damit befassen. Aber ich warne vor einer Überregulierung, dass wir versuchen, jeden einzelnen spezifischen Fall in Komma, Punkt und Beistrich zu zerlegen. Dann werden wir einfach nur ein überreguliertes Monster an Reglement und an Beschreibungen von Szenarien haben. Da komme ich wieder ein bisschen zurück zum Let Them Race: Irgendwann einmal muss dann derjenige, der Weltmeister werden oder das Rennen gewinnen will auch einmal zurückstecken und den anderen vorbeilassen. Das heute wollte keiner. Und das ist diese Emotion, die der Zuschauer auch sehen will. Man sieht, dass es auch nur Menschen sind, die auch einmal grantig und überhitzt sind. Irgendwann werden wir aber wieder sehen, wie die Kühlköpfe zum Schluss gewinnen.

Unfair?! Verstappen und Norris kollidieren! Rücksichtslos? (09:23 Min.)